Geschichte

Ein geschichtlicher Abriß (1925 – 1933)

Anstoß von der sozialpädagogischen Bewegung der zwanziger Jahre
Die sozialpädagogische Bewegung der zwanziger Jahre löste eine Welle leidenschaftlicher Auseinandersetzung aus. Es entstanden Reformpläne und -versuche, und zwar aus der freien Initiative persönlich ergriffener Menschen, die überall auf den verhängnisvollen Teufelskreis wirtschaftlicher und sozialer Notstände stießen. Sie kamen aus der sozialistischen oder bürgerlichen Jugendbewegung und drängten in sozialpädagogische Arbeit. Die Jüngeren fanden Verbündete in einzelnen, zum Teil wesentlich älteren Menschen.. Sie waren bewegt von einer lebendigen Offenheit und einem beunruhigten Gewissen gegenüber den Problemen und Aufgaben der Zeit. Manche Reformideen scheiterten an der noch autoritär geprägten Bürokratie. (Walther Thorun)

Sie gründeten eine Gildenschaft sozialer Arbeit
Es begann mit einem Aufruf von Justus Ehrhardt, einem Angehörigen der Jugendbewegung, in der bündischen Zeitschrift ‚Zwiespruch‘ zur Sammlung aller in der sozialen Arbeit Tätigen. Er bildete mit Alwin Brockmann, Max Martin und Heidi Denzel ein ‚Gildenschaftamt‘; hinzu stießen Gustav Buchhierl und Werner Kindt. Sie gründeten im Jahre 1925 die „Gilde“ aus dem Willen zu verantwortlicher Mitarbeit an der Beseitigung der sozialen Mißstände und aus der Erkenntnis, dass die soziale Arbeit erfüllt werden müsse von den Ideen, die aus der Jugendbewegung lebendig waren. „Die Gründungsgeneration der Gilde stand im ‚Goldenen‘ oder krisengeschüttelten Zeitalter der Zwanziger Jahre im dritten Lebensjahrzehnt, d.h. in der Zeit eigener Berufswahl und Qualifizierung und den ersten Berufsschritten und Erfolgen. Sie war, wie kaum eine andere Berufsart, verflochten in die sozialen, politischen und psychologischen Probleme jener Epoche und wollte Hand anlegen, dass ‚es‘ besser würde.“
(Elisabeth Siegel)

Anstelle einer Satzung wurde ein Programm formuliert:
„Die Gilde Soziale Arbeit ist der Zusammenschluß von Männern und Frauen, die aus der Jugendbewegung stammen oder ihr im Geiste nahestehen und ehrenamtlich oder beruflich in der Sozialen Arbeit tätig sind. Die Gilde will die Kräfte der Jugendbewegung in der Sozialen Arbeit einsetzen und in ihr entwickeln… Über den Kreis der Mitglieder hinaus will die Gilde auch Einfluß auf die Gestaltung und Entwicklung der sozialen Arbeit gewinnen.“

Die Gilde – ein Begriff in der Fachwelt sozialer Arbeit
1925 / 1926 entstand der Gilde Rundbrief, in dem fortan Aufsätze zu Sachfragen, organisatorische Mitteilungen und Termine veröffentlicht wurden. An der ersten Tagung 1927 nahmen bereits mehr als 300 Mitglieder teil, deren Zahl sich bis 1932 auf 800 bis 1000 erhöhte. Es bildeten sich örtliche und landschaftlich gebundene Kreise, die über das ganze Reich verteilt waren. Bemerkenswert war 1929 ein heute nicht mehr geltender Beschluß, wonach neu aufzunehmende Mitglieder einen oder zwei befürwortende Bürgen beizubringen hatte. Unter den aus Wissenschaft und Praxis kommenden Mitgliedern befanden sich Persönlichkeiten wie Curt Bondy, Herbert Francke, Walter Hermann, August Oswalt, Hermann Schafft, denen eine tragende und gestaltende Rolle zu kam. Die Gilde-Tagungen der Jahre 1927 bis 1932 fanden vornehmlich in den östlichen Teilen Deutschlands statt und zwar in Ludwigslust / Mecklenburg, Friedrichsroda / Thüringen und in der Sächsischen Schweiz. Sie bezogen sich thematisch vor allem auf Fragen der Reform der Fürsorgeerziehung, solche des Berufsganges der Sozialarbeiter, deren fachliche Orientierung und aktuelle Gegenwartsprobleme. Von vornherein kam für die Gilde eine Festlegung auf bestimmte politische Entscheidungen nicht in Frage. Die Gilde erwartete aber von jedem eine persönliche politische Entscheidung. Mit aller Deutlichkeit wurde 1932 gegenüber dem aufkommenden Nationalsozialismus ein wichtiger Grundsatz formuliert: „Radikal politische Entscheidungen, die zur Ablehnung oder Sabotage der Sozialen Arbeit führen, scheiden sich von selbst aus dem Kreis der Gilde aus.“ Als sich die politische Lage immer mehr zuspitzte, versuchte die Gilde durch eine öffentliche Veranstaltung, auf der Herman Nohl und Curt Bondy zum Thema „Pädagogische Bewegung oder pädagogische Reaktion“ sprachen, auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen. Als sich die Ereignisse 1933 überstürzten und um einer „Gleichschaltung“ durch das NS-Regime zu entgehen, löste sich die Gilde auf. In den Jahren danach hielten viele Mitglieder untereinander Kontakt, so dass der „Geist der Gilde “ weiterhin lebendig blieb.

( 1947 – 1995 ) Neubesinnung – 1947
Zwei Jahre nach Kriegsende ergriff Anneliese Hückstädt in Hamburg als erste die Initiative, die Mitglieder der Gilde zusammenzuführen. Sie übernahm die Redaktion zu einer der ersten Veröffentlichungen über „soziale Neubesinnung“ mit Beiträgen von Helmuth Tormin, Hans Hennings, Magaretha Cornils, Hildegard Kipp und Hermine Albers. Eigentlicher Auftakt aber war ein erstes Treffen unter der Führung von Helmuth Tormin, Walter Hermann, Wilhelm Mollenhauer und Hermann Schafft im Mai 1947 auf der Jugendburg Ludwigstein (Sitz des Archivs der deutschen Jugendbewegung). „Das ist eigentlich der Grundton dieser 1. Ludwigstein-Tagung gewesen, dass wir vor lauter enthusiastischer Wiedersehensfreude ganz aus dem Häuschen waren; und so niederdrückend und mühselig die Bedingungen für geplante Sozialarbeit in dem damals total verarmten, hungernden, ohne organisierte Zusammenarbeit dahin lebenden Deutschland waren, das focht uns nicht an. Das Ausmaß des Negativen wurde bei weitem überflügelt durch die Begeisterung: Jetzt sind wir frei Neues anzufangen!“ (Elisabeth Siegel )

In den Jahren nach 1947 sammelten sich zunehmend alte und neue Mitglieder, die den Trägern öffentlicher und freier Jugendhilfe und Sozialarbeit angehörten oder als Lehrende oder Studierende von sozialpädagogischen Ausbildungsstätten kamen. Die neuen Angebote für Ausbildung, aber auch der neue Stil und die Vielfalt sozialer Arbeit, wurden mehr und mehr sichtbar an der Herkunft und den Arbeitsfeldern der TagungsteilnehmerInnen, zu denen nicht nur SozialarbeiterInnen und LehrerInnen, sondern auch Angehörige aus medizinischen, verwaltungstechnischen und juristischen Berufen gehörten. Ein wichtiger Faktor der Kontaktpflege der Gildemitglieder untereinander war etwas, was sich zunächst ganz locker und schließlich fast institutionell eingespielt hat, bis es politisch gestoppt wurde, nämlich das Treffen mit ehemaligen Gildemitgliedern aus der DDR in Berlin, zunächst in West- und später in Ost-Berlin, das für alle, die daran beteiligt waren, jahraus, jahrein nicht nur eine Fundgrube der gegenseitigen ungeschminkten Informationen war, sondern auch ein erstaunliches Beispiel einer Klammer zwischen Ost und West…“ (Elisabeth Siegel)

Seit 1990 sind Kolleginnen und Kollegen aus Ost und West wieder in einer gemeinsamen Gilde freundschaftlich vereint. Ein besonderer Gewinn bei jeder Jahrestagung.

Die Jahrestagungen bis heute
Die zur Tradition gewordenen Jahrestagungen fanden seit 1947 zunächst (bis 1950) auf der Jugendburg in Witzenhausen a.d. Werra statt, dann in der Jugendherberge Bielefeld-Sieker, zwischen 1952 und 1962 im CVJM-Freitzeitheim in Dassel/Solling und seit 1964 mit einigen Ausnahmen (Dörnberg b. Kassel und Königstein i.Taunus) in der Heimvolkshochschule Haus Neuland in Bielefeld-Sennestadt.
Stets ist es der Gilde bis in die Gegenwart hinein gelungen, jeweils ebenso vorzeitig wie rechtzeitig die nahende Aktualität eines Tagungsthemas zu finden. Das waren in den 50er Jahren Themen, die sich auf die Heimat-, Arbeits- und Bildungslosigkeit junger Menschen, auf bedrohte Kindheit und auf neue Formen sozialer Verwurzelungen bezogen.
In den 60er Jahren dominierten die Fragen nach der Grundausrichtung der Erziehung in der Jugendhilfe, der Heimerziehung, oder es gab kritische Auseinandersetzungen im Vergleich von autoritären Strukturen und demokratischen Tendenzen in Sozialpädagogik und sozialer Arbeit.
Seit den 60er Jahren folgt die Gilde den Fragen nach Professionalisierung, nach den Strukturproblemen in der Sozialarbeit ebenso wie dem strittigen Nachdenken über „Konflikt und Aktion“.

Seit 1969 besteht die Tradition der „Älteren Gilde“
Sie bezeichnet das regelmäßige Jahrestreffen der älteren und alt gewordenen Gildemitglieder in Stapelage i. Westf. Hier bringt jeder seine eigene Lebenszeit mit ein, in der ein Anteil vieler Lebensjahre zugleich der Gilde gewidmet war und ist. Diese Gruppe folgt jeweils einem naheliegenden Thema im Felde sozialer Arbeit und pflegt freundschaftliche Verbundenheit. Jüngere TeilnehmerInnen sind auch in dieser Gruppe herzlich willkommen.

Die Gilde und die „Neue Praxis“
Von Mitte der 1970er Jahre bis zum Ende der 1990er Jahre arbeitet die Gilde in enger Kooperation mit der Zeitschrift „Neue Praxis“, an deren Gründung Mitglieder der Gilde maßgeblich beteiligt waren, u.a. Hanns Eyferth, Waltraud Hackewitz, Paul Hirschauer, August Oswalt, Hans-Uwe Otto, Kurt Utermann, Gottfried Weber, Ulf Weißenfels. Verstärkt stehen Probleme der Integration von Theorie und Praxis in Ausbildung und Beruf zur Debatte, ebenso wie zentrale Aspekte der Sozialarbeit im Sozialstaat oder „Professionelle Standards in der Sozialarbeit / Sozialpädagogik im Widerstreit von Wirtschaftlichkeit und beruflicher Ethik“. Eine Vielzahl von Tagungen führte zu Sonderheften, auch der “ Neuen Praxis“, Artikel und Buchpublikationen und animierten verstärkt jüngere FachkollegInnen und StudentInnen zur Tagungsteilnahme und zur Mitgliedschaft in der Gilde.

Die Bielefelder Erklärungen
Seit den 2010er Jahren veröffentlicht das Gildeamt jedes Jahr im Zuge der Jahrestagung die sogenannte Bielefelder Erklärung. In dieser werden Selbstbekenntnisse, Handlungsaufrufe und Forderungen Bezug-nehmend auf das jeweilige Thema der Jahrestagung formuliert, welche stets die Fachwelt sowie die Fachpolitik adressieren.

100 Jahre Gilde Soziale Arbeit in 2025
Für dieses Jubiläum haben wir die Veröffentlichung eines Buches sowie die Freigabe unseres Archives über eine Online-Plattform geplant. Mensch darf gespannt bleiben…